Mein Tagebuch: 25.12.2022

25. Dezember, Sonntag: Erster Weihnachtstag mit «Musik» und neuer Duftnote

Während rund um Leukerbad die Wasserfälle schon wie im Frühling rauschen und die Schneegrenze auf 1800 m liegt, versinken die nördlichen Teile der USA, Kanada und Japan im Schnee. Millionen von Menschen sind von der Stromversorgung abgeschnitten. Und das an Weihnachten!

Georg schenkt mir rot-gelbe Tulpen mit duftenden Kiefernzweigen. Die Floristin habe ihm erzählt, dass es in Italien üblich sei, an Weihnachten Tulpen zu schenken. Heute wollen wir zum Weidstübli wandern, um dort eine Suppe und ein Glas Wein zu geniessen. Die Walliser Sonne zeigt sich wieder. Die Restaurantterrasse ist für viele Gäste vorbereitet, aber wegen des Schneemangels können die Skifahrenden nicht vorbeikommen. Ausser uns finden sich nur zwei weitere Gäste ein. Die Chefin und das Personal sind fühlbar schlecht gelaunt. Laute Musik mit kitschigen amerikanischen Weihnachtsliedern schallt über die leeren Tische und Stühle hinweg und versucht vergebens weitere Gäste anzulocken. Wir müssen zweimal bitten, damit sie die «Musik» leiser stellen. Unsere gute Laune lassen wir uns nicht verderben. Die Kürbissuppe schmeckt gut, die Portion ist grösser als sonst. Ob wir noch einen Kaffee oder ein Dessert wünschen? Wir lehnen dankend ab, denn die «Musik» sei wirklich nicht auszuhalten, bezahlen und verlassen diesen eigentlich sehr schönen Ort. Georg meint, dass wir in Zukunft unser Picknick mitnehmen und uns auf eine Bank setzen werden, um die wunderbare Stille der Berge und des Waldes zu geniessen. Oder wir ändern unsere Route, denn auf der anderen Seite von Leukerbad gibt es tatsächlich ein Restaurant, «Buljes» genannt, ohne Musik.

Gemäss dem julianischen Kalender feiern die Menschen in der Ukraine Weihnachten erst am 7. Januar. Doch die Kirchen bieten schon heute Weihnachtsmessen an, mit grossem Erfolg. Die Menschen wollen nicht mehr gleichzeitig mit jenen in Russland die Geburt Christi feiern. Der Kiewer Patriarch stellt fest, dass die diesjährigen Feiern ein historischer Moment seien. Die deutsche Tagesschau zeigt einen ukrainischen Soldaten neben einem Panzer. Er schmückt einen kunstvoll aus Draht gebastelten Weihnachtsbaum und sagt: «Krieg hin oder her, Weihnachten muss gefeiert werden!»
 Der Geruch von Verwesung in Waschküche und Treppenhaus hat inzwischen eine neue Duftnote erhalten: Ein anderer Nachbar, in dessen Kellerabteil der zurzeit immer noch abwesende Hans sein Fleisch trocknet, hat auf unsere Beschwerde hin die Räume mit „zitronigem“ Toiletten-Duftspray eingenebelt. Wie wohl die Waldschaben darauf reagieren werden? Georg meint: „Das ist doch gut so! Letztes Jahr wurdest du noch wegen deiner Reklamation beschimpft, dieses Jahr wirst du mit Duft besprayt!“

Foto: Leukerbad und Text: Petra Dobrovolny              

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