Eine Neuerscheinung

Das internationale Literaturfestival in LB

24. Juni, Samstag: Internationales Literaturfestival
Auch dieses Jahr findet es in Leukerbad statt, vier Tage lang. Zum dritten Mal möchte ich den literarischen Abend am Samstag erleben. Die zwei weissen Festzelte sind wieder aufgestellt. Nach zwei Tagen Nebel und grauen Wolken zeigt sich heute ein strahlend blauer Himmel. Zunächst gehe ich zur Mittagszeit in das Bücherzelt am Dorfplatz, um zu fragen, wo ich ein Ticket kaufen kann. Die junge Dame sagt mir, hier gäbe es nur die Bücher, ich solle im nächsten Zelt neben der Walliser Alpentherme fragen. Dort treffe ich einen jungen Walliser an, der gerade Getränke auspackt. Er wüsste von nichts, denn er arbeite nicht für das Festival, sondern für die Catering-Firma. Ich solle im Tourismusbüro beim Bahnhof fragen. Dann legt er vier pizza-ähnliche blasse Gebilde in die Vitrine und sortiert die Weinflaschen.

Zunächst gehe ich jedoch in die Kirche, um während einer Stunde zufälligen Passant:innen mit meinen meditativen Klängen zu inspirieren. Die zahlreichen Festivalbesuchenden sind zu sehr mit Literatur oder dem Mittagessen beschäftigt, so dass bei meinem «Dona nobis pacem» nur ein einziger älterer hellblonder Mann mit schlanker nordischer Körpergrösse mit abgewetzten Jeans und auch sonst ärmlich aussehender Kleidung die Kirche betritt. Er bekreuzigt sich auf Herzhöhe, setzt sich in eine Bank und hört mir zu. «Pax domini sit semper vobiscum.» Er nimmt seine Sonnenbrille ab und faltet die Hände zum Gebet. Bald löst er eine Hand, um sich Tränen abzuwischen. «Agnus Dei, dona eis requiem.» Dann steht er auf, kramt in seiner Hosentasche, kommt zum kleinen Altar der Seitenkapelle, auf dem meine Klangschalen stehen, legt ein kleines Geldstück auf die weisse Tischdecke und nickt mir leicht zu. «Andate in pacem», singe ich, noch bevor der Besucher die Kirchentür leise hinter sich schliesst. Das 50-Rappen-Stück spende ich der hl. Maria von Fatima.

Im Tourismusbüro erfahre ich, dass sich der Ticketschalter dieses Jahr in der Skischule beim alten Bahnhof befindet. Dort teile ich der jungen Dame meinen Wunsch nach einem Einzelticket für den Abend mit. Sie schaut mich durchdringend an und will unbedingt wissen, ob ich denn beabsichtige bis zum Ende der Veranstaltung um 24 Uhr zu bleiben. Ihr strenger Blick meint ohne Worte, dass es mir nicht in den Sinn kommen solle, jemandem, der unbedingt so lange bleiben wolle, bereits um 20 Uhr den Platz wegzunehmen. Ich erwidere mit einem erstaunten Blick und bejahe ihre Frage mit der Botschaft ohne Worte, dass mir die Zeitdauer der Veranstaltung bekannt sei und ich nicht die geringste Absicht hätte meinen Platz unrechtmässig frühzeitig zu verlassen. Daraufhin nimmt sie eine grosse dunkelblaue Eintrittskarte, schreibt auf die weisse Rückseite «literarischer Abend» und 45.- bezahlt. Dazu bekomme ich einen leuchtend gelben Halsbändel überreicht, an dem sich die Karte befestigen lässt. So sei ich für die Eingangskontrolle erkenntlich, meint die Dame, sie selbst sei aber auch am Abend ebenfalls beim Eingang. Im Falle eines Problems mit meiner Karte würde sie höchst persönlich dafür sorgen, dass ich eingelassen werde.
Als ich am Abend 10 Minuten vor Beginn das grosse weisse Zelt betrete, ist diese Dame weit und breit nicht zu sehen und niemanden interessiert meine Eintrittskarte. Das Programm bekomme ich in die Hand gedrückt, weiter vorne beim Podium finde ich wie die beiden Jahre zuvor meinen gewohnten Platz. Das Publikum unterhält sich untereinander angeregt, denn dieses Jahr muss niemand mehr «wegen Corona» eine Maske tragen. Aus Erfahrung weiss ich, dass mit der Zeit die Kälte im gut durchlüfteten Zelt zunimmt und habe mir ein Sitzkissen und eine kleine Wolldecke mitgenommen. Es blieb mir gerade noch genügend Zeit, um an der kleinen Bar bei dem jungen Mann, der wahrscheinlich immer noch nicht weiss, wo sich der Ticketschalter des Festivals befindet, ein Glas Walliser Pinot Noir zu besorgen. Letztes Jahr gab es noch Rotweingläser, für die man 5.- Fr Depot zahlen musste. Jetzt gibt es Plastikbecher in spitzer Kelchform, die eigentlich für Sekt bestimmt sind. In diesem Gefäss kann sich mein Pinot Noir nicht richtig entfalten. Dafür muss ich nachher nicht wie die letzten beiden Jahre noch einmal Schlange stehen, um das «Glas» gegen ein Depot zurückzugeben. Die ersten drei Vorlesenden werde angekündigt. Die Libanesin Chaza Charafeddine, Jg. 1964, lebt nach Studien in Deutschland und der Schweiz heute wieder in Beirut, und beginnt den Abend mit einem Auszug aus ihrem Buch «Beirut für wilde Mädchen». Zunächst liest sie ein paar Minuten in ihrer arabischen Muttersprache vor. Leider viel zu schnell, so dass sich die Schönheit des Arabischen gar nicht entfalten kann. Das Publikum, welches zu 70% aus grau- oder weisshaarigen Damen besteht, hört höflich zu, kann aber mehr verstehen, als die Autorin auf Deutsch von verbotenen Partys in ihrer Pubertätszeit erzählt, zu denen sie ihre ältere damals 16-jährige Schwester mitnahm. Als Zweiter schildert Karl Rühmann, Jg. 1959, der in Jugoslawien und den USA aufwuchs, das Gespräch eines Grossvaters mit seinem Sohn und Enkel darüber, ob er die «Partisanenrente» beantragen solle. Ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben: «Wer das System ausnützt, hat es verstanden.» Als Dritte liest Yael Inokai, 1989 in Basel geboren, Tochter einer Deutschen und eines Ungarn, aus ihrem neusten Roman «Ein simpler Eingriff» und stellt ethische Fragen nach dem Nutzen medizinischer Eingriffe. Es folgt eine Viertelstunde Pause, genug Zeit, um sich ein weiteres Getränk in einem unpassenden Glas an der Bar zu holen. Um 21 Uhr beginnt ein weiterer Block mit Magdalena Schrefel, die einen Einblick in ein Familienleben mit einer alleinerziehenden spielsüchtigen Mutter gibt, mit Raphael Urweider, der sich in Termiten einfühlt, die in ihrem Leben nur wenige Tage fliegen können, und dem Walliser Rolf Hermann, der von seinem Job als Schafhirte erzählt und dabei mit unterschiedlich begabten und trainierten Hirtenhunden zurechtkommen muss. Zu Beginn der Pause meldet sich bei mir ein menschliches Bedürfnis. In der Dunkelheit nehme ich die Holzbude mit den Toiletten nicht wahr. Stattdessen gehe ich in das nächste Hotel, von dem ich weiss, dass sich das Örtchen im Untergrund befindet. Nach dem WC-Besuch gehe ich die Treppe wieder nach oben und finde ich die Türe zum Empfang abgeschlossen. Innerhalb von drei Minuten meines unterirdischen Aufenthalts hat sich mir der Rückweg zum Literaturzelt versperrt. Mein Klopfen und Rufen nützt nichts. Ich höre nur die beschallende Musik des Hoteleingangs, die Person mit dem rettenden Schlüssel hat sich mindestens 5 Minuten zu früh den Feierabend gegönnt. Meine Uhr zeigt 21.55 Uhr. Die unangenehme Aussicht, die Nacht im gekachelten und fensterlosen Untergeschoss eines Hotels zu verbringen wird dadurch abgemildert, dass ich jederzeit auf die Toilette gehen oder Wasser trinken könnte. Mir fällt der Satz ein: «Wenn sich eine Tür schliesst, öffnet sich eine andere.» Also drehe ich mich um, gehe die Treppe hinunter und entdecke mindestens sechs weitere Türen. Und siehe da: Die vierte Türe lässt sich öffnen, und gibt den Weg frei zu einer mit Teppich bespannten Treppe. Oben angekommen befinde ich mich am anderen Ende des Hoteleingangs. Auch hier habe ich Glück: Die Aussentüre lässt sich von innen öffnen. Ein Seufzer der Erleichterung entfährt mir und ich finde zurück zu meinem Platz im weissen Zelt, wo mein Rucksack, mein Sitzkissen mit der Decke auf mich gewartet haben. Etwa die Hälfte des Publikums hat sich inzwischen in die umliegenden Restaurants oder Hotels zurückgezogen. Die Themen des nächsten Blocks sind bei Christoph Geiser männliche Gewalt, bei Ariane von Graffenried ein Sexroboter, dem bei der Arbeit die Batterie ausgeht und bei Martin Bieri Raumsonden, die den Kontakt zur Erde verloren haben. Um 22.45 Uhr wird die letzte Pause angekündigt, ein weiterer Teil des Publikums verlässt das Zelt, in dem es inzwischen ziemlich kühl geworden ist. Niemand möchte mehr etwas von der Bar, wo die pizza-ähnlichen Gebilde immer noch unbeachtet in der Vitrine ausharren. Von 23 bis 23.45 Uhr stehen noch Lesungen von Jennifer Makumbi aus Uganda, Rajesh Parameswaran aus Indien und Arno Camenisch aus Graubünden auf dem Programm. Aber der verlockenden Aussicht auf einen wärmenden Rotwein in einem richtigen Glas und einen gemütlichen Raum ohne Kacheln gebe ich gerne nach und nehme den fünfminütigen Weg nach Hause unter die Füsse. Auch wenn mein frühzeitiges Verlassen der Dame am Ticketschalter des Literaturfestivals nicht gefallen hätte.

Foto des Programms und Text: Petra Dobrovolny