23.09.2023, Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche: Ein Klassentreffen

Heute findet unser Klassentreffen in Rolandseck statt: Wir sind 8 ehemalige Schüler und Schülerinnen, die in den 50er und 60er Jahren in Luxemburg die Europa-Schule besucht haben. Ein paar von uns kennen sich seit der Kindergartenzeit, einige haben 1970 gemeinsam das Abitur gemacht. Während all der Jahre hatten wir den Kontakt nicht verloren, auch wenn unser Lebensweg uns in unterschiedliche Länder führte. Nach einigen Online-Treffen entstand der Wunsch nach einem physischen Treffen. Jemand hatte die Idee mit Rolandseck und einer kulturellen Einlage im Programm, der Besichtigung des Arp-Museums. Einige unserer Klasse haben sich nicht mehr gemeldet, einige waren zu diesem Termin verhindert, wir machen das Beste daraus.  

Die Nazi-Zeit und den 2. Weltkrieg kennen wir aus den Erzählungen unserer Eltern, heute besuchen wir ein Museum mit Werken von dem Künstlerehepaar Hans Arp und Sophie Täuber, die in den 30er Jahren aus Deutschland fliehen mussten, weil Ihre Kunst als «entartet» galt. Wir sind in einer Zeit aufgewachsen, in welcher aus dem Wunsch nach einer Versöhnung von Frankreich und Deutschland die europäische Gemeinschaft – für Kohle und Stahl – mit damals 6 Ländern entstand. Der Wunsch nach einer Zusammenarbeit zum Wohle aller, vor allem die Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden verbreitete eine Aufbruchstimmung und einen Optimismus. In dieser Atmosphäre wuchsen wir auf, auch mit der Neugier, andere Länder und Sprachen kennenzulernen. In Luxemburg, Brüssel und Varese entstanden Europa-Schulen, in denen Kinder aus Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Deutschland gemeinsam unterrichtet wurden. Die Schulen waren auch offen für andere Nationen. So bekamen wir einen persischen Mitschüler, dessen Eltern Baha’i sind und den Iran verlassen mussten. Fremdes erlebten wir nicht als Bedrohung, sondern als seelisch-geistige Bereicherung. Manche von uns haben Partner und Partnerinnen aus anderen Ländern geheiratet oder haben des Berufes wegen in anderen Ländern gelebt. Umso weniger verstehen wir, wie die europäische Gemeinschaft sich in den letzten drei Jahrzehnten entwickelt hat und ein bürokratisches Monster geworden ist. In den letzten Jahren sorgte die Pandemie für viele Arten von Trennung zwischen den Menschen, auch Themen wie der Ukrainekrieg und die Klimakrise entzweit die Menschen. Doch während unseres Klassentreffens geniessen wir unsere alte Vertrautheit, erinnern uns an gemeinsame Erlebnisse und gemeinsame Lehrer und Lehrerinnen. Wir freuen uns am gemeinsamen Essen, dem wunderbaren Wetter und an diesem Treffen, welches wir nächstes Jahr wenn möglich im Elsass weiterführen möchten.

Am Abend laden Georg und ich meine in Bonn wohnende Patentante und ihren Lebenspartner in die Dreesen Suite zu einem Glas Wein ein. Wir möchten die Räume noch nutzen, denn für die 4. und letzte Nacht vor unserer Rückreise in die Schweiz müssen wir in ein kleines Doppelzimmer nach nebenan umziehen. Jemand hat die Suite für die nächsten zwei Wochen gemietet. Unsere Gäste erzählen von alten Zeiten, vom Ende des Krieges, von vielen Nächten, die im Keller verbracht wurden, von ihren Gebeten an die Engländer und Amerikaner, Deutschland endlich von dem Irrsinn zu befreien.

Für Sonntag darf ich mir einen Ausflug auf den Petersberg wünschen. Das Hotel mit Zentrum für internationale Konferenzen ist immer noch auch ein Gästehaus für Staatsgäste der Bundesregierung. Es beherbergte nach dem Krieg die erste deutsche Bundesregierung unter Konrad Adenauer. Mein Vater hatte vor meiner Geburt als Pressesprecher für ihn gearbeitet und uns Kindern erzählt, wie Adenauer ihm gezeigt hatte, welchen Tisch mein Vater in den Flur stellen könnte, um dort zu arbeiten, denn die Plätze in den Büros waren beschränkt. Auf Adenauers Empfehlung hin engagierte in Luxemburg im August 1952 Jean Monnet meinen Vater als Pressesprecher der hohen Behörde der Montanunion für die deutschen Medien. Die Europäische Gemeinschaft war gerade geboren worden, ich bald auch, und so zog unsere Familie nach Luxemburg um. Am 17. Mai 1991, einen Tag bevor er starb, konnte er «sein Büro» auf dem Petersberg noch einmal besuchen. Während seiner Tätigkeit hatte mein Vater einen regen Austausch mit Journalisten und Journalistinnen, die ihn grosszügig mit ihren Pressefotos versorgten. So entstand eine aussergewöhnliche Sammlung für die heutige Zeit wertvoller Dokumente über die ersten Jahre der Europäischen Gemeinschaft. Diesen Nachlass schenkte ich der «Fondation Jean Monnet pour  l’Europe» in Lausanne, wo er heute von Besuchenden und Studierenden aus der ganzen Welt besichtigt wird.

Heute darf ich auf der Terrasse des Petersbergs mit meiner Patentante und ihrem Partner Tee und Schokoladeneis geniessen, bei herbstlichem Sonnenschein und ungewöhnlich klarer Aussicht auf den Rhein, das Hotel Dreesen und den Kölner Dom.   Tatsächlich können Georg und ich am Montag, den 25. September vom Bonner Hauptbahnhof abfahren. Sicherheitshalber hatte Georg am Tag vorher die Auskunft gefragt. Es wurde ihm bestätigt, dass die Baustelle seit Samstag beendet sei. Da stehen wir nun rechtzeitig auf dem Bahnsteig. Die Ansage lautet: «Der EC von Hamburg Altona nach Zürich wird mit einer Verspätung von 10 Minuten eintreffen. Der Grund dafür ist eine Baustelle.» In den nächsten Minuten ändert sich die Ansage, der Zug werde 20, dann 30, dann 40 Minuten verspätet sein, dann wieder 30 Minuten. Nach 25 Minuten fährt der EC plötzlich ein, und wir sind froh, endlich dem kalten Wind und dem kundenunfreundlichen Bahnsteig ohne vor dem Wetter schützende Wartemöglichkeiten. Der Zug fährt nach dem Halt in Basel nicht mehr weiter nach Zürich. Doch dies betrifft uns nicht. Wir müssen sowieso nach Bern umsteigen und kommen schliesslich mit mehr als einer Stunde Verspätung zu Hause an.  
Am 3. Oktober stehe ich wieder hinter dem Altar der Seitenkapelle in der Pfarrkirche Leukerbad. Vor mir warten meine drei Kristallklangschalen darauf, dass ich sie in Schwingung setze. Heute möchte ich diese harmonisierenden Klänge nach Deutschland schicken, zum Tag der deutschen Einheit. Einigkeit und Recht und Freiheit … Wo sind sie geblieben? Wann wird man je versteh’n? Alle Menschen werden Brüder … Freude … Wo ist all das geblieben? Mögen meine Klänge den göttlichen Funken wiedererwecken.

Foto: Der Rhein bei Mehlem

und Text: Petra Dobrovolny 

Von der Kunst eine Fahrkarte zu kaufen

Es gibt viele Gründe, um nach 4 Jahren wieder mal nach Bonn zu reisen. Oder besser gesagt, um es zu wagen zu reisen. Denn mit der Deutschen Bahn weiss man nie, ob man auch dort ankommt, wo man hinmöchte, geschweige denn in dem Zeitrahmen, den man sich vorgestellt hat. Mit der Besorgung unserer Fahrkarten begann bereits das Abenteuer. Es dauerte zwei Stunden. Zunächst versuchte ich mein Glück zuhause am PC. Nach einer dreiviertel Stunde gab ich auf: Es schien unmöglich an dem gewünschten Datum zur gewünschten Zeit von Bern nach Bonn zu fahren. Der Zug hält nicht in Bonn HB, sondern erst in Köln. Oder er hält nur Bonn-Beuel, eine Platzreservation kann ich nicht vornehmen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Glück im Reisezentrum des Berner HB zu suchen. Nach einer viertel Stunde Wartezeit dürfen wir an den Schalter einer Dame, die nicht gerade einen kompetenten Eindruck macht. Sie sucht eine Weile im Internet und teilt uns schliesslich mit, dass es nicht möglich sei nach Bonn zu reisen. Wir müssten nach Köln. Ich entgegne, dass dies aber ein grosser Umweg sei. Sie findet das nicht, es seien doch nur 20 Minuten. Aber diese 20 Minuten müssten wir wieder zurückfahren, dies ergäbe dann 40 Minuten Zugfahrt ohne Sinn. Nach einer weiteren Suche teilt die Dame uns mit, dass wir nur nach Bonn-Beule fahren könnten. Ich mache sie darauf aufmerksam, dass es Beuel heisse, nicht Beule. Nach kurzer Überlegung findet auch Georg, dass wir wenigstens mal bis dorthin buchen sollten. Die Dame druckt uns eine Fahrkarte aus, die sogar eine direkte Hinfahrt von Bern nach Bonn-Beuel anzeigt, ohne in Basel umzusteigen. Nach weiteren 5 Minuten erhalten wir noch die Rückfahrkarte vom Bonner HB nach Bern mit Umsteigen in Basel und Platzreservation. Die Rückfahrt scheint einfacher zu sein. Unterdessen haben wir mindestens eine halbe Stunde in dem Reisezentrum verbracht. Ich muss jetzt ins Wallis und Georg möchte mich zum Zug begleiten. Der Dame am Schalter sagt er, dass sie inzwischen in Ruhe danach suchen könne, ob doch eine Platzreservation nach Bonn-Beuel möglich sei, er käme in etwa 10 Minuten wieder. Nach diesen 10 Minuten ist die Dame jedoch mit einem anderen Kunden beschäftigt und tut so, als hätte sie Georg noch nie gesehen. Ein anderer Kollege kümmert sich jetzt um unser Anliegen. Eine Platzreservation nach Beuel scheint weiterhin unmöglich zu sein. Wir sollten einfach einsteigen und schauen, wo es freie Plätze gäbe. Das wollen wir aber nicht, denn wir wissen, wie gut besetzt die Züge in den Norden sind. Am nächsten Tag geht Georg noch einmal ins Reisezentrum am Bahnhof. Er wendet sich direkt an den Mitarbeiter, der neue Kolleg*innen in die Geheimnisse der Kundenberatung einweiht. Innerhalb von 5 Minuten erhalten wir die gewünschte Platzreservation, und zwar nach Bonn HB, obwohl der Zug dort gar nicht hält. Die Reservation ist gratis. Immerhin … 

Am 21. September finden wir tatsächlich unsere reservierten Plätze im EC von Bern nach Hamburg Altona, Bern ab um 13.04 Uhr. Laut der Informationstafel soll der Zug in Bonn HB halten. Wunderbar! Wir machen es uns gemütlich und freuen uns, dass wir in Basel nicht umsteigen müssen. In Basel hat der Zug etwa eine halbe Stunde Aufenthalt. Zeit genug, um noch etwas Proviant einzukaufen. Auf dem Bahnsteig kündigt die Infotafel an, dass der EC in Bonn-Beuel halten werde. Wir nehmen es gelassen. Gegen 15 Uhr nähern wir uns Freiburg. Hier steigen viele Leute ein. Karlsruhe, Mannheim. Die Hälfte unserer Reise ist geschafft. Mit 15 Minuten Verspätung. Mainz, Koblenz. Graue Wolken ziehen auf. In den Städtchen am Rhein entlang ist kein Mensch auf der Strasse zu sehen. Es kommt mir vor, als befände sich über der Landschaft eine riesige dunkelbraune Glasglocke, die alles Leben dämpft. Die Bahnstrecke säumen öfters Schrebergärten. Mir fällt auf, dass dort zahlreiche deutsche Fahnen wehen. Der Herr vom Empfang unseres Hotels sagt uns ein paar Stunden später, dass Deutschland in den letzten Jahren sehr nach rechts gerutscht sei. Es beginnt zu regnen, in Remagen wechselt der Zug die Rheinseite. Spätestens jetzt steht fest, dass er nicht in Bonn HB halten wird. Allmählich wird es dunkel, die Verspätung beträgt 30 Minuten. Der vorbeieilende Schaffner hat keine Lust, uns über die genauere Ankunftszeit in Beuel zu informieren. Wir stellen uns mit unserem Gepäck schon mal vor die Tür. Der Ec nimmt immer mehr an Fahrt auf, sodass wir befürchten, doch noch in Köln zu landen. Ein kleiner Bahnhof und ein stellenweise mit Gras bewachsener ungepflegter Bahnsteig kommen in Sicht, der Zug hält tatsächlich an. Es giesst in Strömen. Eine steile unbedachte Holztreppe führt zu einer Plattform über den Gleisen und auf der anderen Seite geht es ebenso steil hinunter. Mit unserem Gepäck schaffen wir das gerade noch. Ein netter Herr hilft einer gehbehinderten Dame mit ihrem Koffer. Sie nennt ihn einen Engel. Ein Taxi gibt es nicht, der nächste Bus zum Bonner HB fährt erst in 20 Minuten. Der Engel rät uns, die Strassenbahn zu nehmen. Er täte dies auch. Diese fährt in 2 Minuten und erreicht den Bonner HB in etwa 10 Minuten. Der alte Herr neben mir sagt: «Ich wohne jetzt seit 50 Jahren in Bonn. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Das ist nicht nur eine Schande für die Deutsche Bahn, sondern auch eine Schande für Deutschland.» Vor dem Bonner HB stehen zu unserer Erleichterung einige Taxis. Ich frage nach dem Preis zum Hotel Dreesen. «30 Euro», lautet die Antwort in gebrochenem Deutsch. Ich sage: «Wenn Sie wissen, wo das Hotel ist, dann steigen wir ein.» Ja, er wisse es, er sei schon mal dort gewesen. Nach 20 Minuten treffen wir im Rheinhotel Dreesen ein. Die Taxifahrt kostet 25 EUR.
Wir haben ein Doppelzimmer für drei Nächte reserviert. Ich frage, ob sie eine Suite mit mehr Platz hätten. Ja, sie hätten eine einzige Suite, und diese sei zufälligerweise gerade frei. Für uns um 20% günstiger. Der nette Herr vom Empfang zeigt uns die grosszügigen Räumlichkeiten mit zwei Balkons und lobt die wunderbare Aussicht auf die Drachenburg, den Drachenfels und den Petersberg, die jetzt in der Dunkelheit beleuchtet sind. Er schätze sich glücklich, einen so schönen Arbeitsplatz zu haben, wo wir jetzt ein paar Tage Urlaub machen dürften. Besonders schön seien die Sonnenaufgänge, ab morgen scheine wieder die Sonne. Wir sagen zu, lassen unser Gepäck in der Suite und eilen ins noch bis 21 Uhr geöffnete Restaurant, wo uns eine leckere Kürbiscremesuppe und ein Glas Bier erwarten.

Foto: Aussicht auf den Rhein vom Petersberg bis zum Drachenfels

und Text: Petra Dobrovolny