Am 26. Juli dieses Jahres wäre C. G. Jung, der Schweizer Psychiater, der die Analytische Psychologie begründete, 150 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass widmet ihm das Landesmuseum in Zürich eine umfassende Ausstellung.
Was verbindet mich mit ihm?
Als etwa 8-jähriges Mädchen bin ich ihm im Hotel Bad in Schmerikon am Zürichsee mehrmals begegnet. Auf seinen Spaziergängen von seinem Wohnort Bolligen am Seeufer entlang gönnte er sich eine Rast in der Stube des „Bädli“, in welchem wir öfters Ferien verbrachten. Er hatte einen Spazierstock bei sich, trug einen hellen Leinenanzug und einen Strohhut. Die Wirtin, die ihn mit „Grüezi, Herr Professor!“ begrüsste, brachte ihm immer einen Milchkaffee und ein „Gipfeli“ (Hörnchen). Ich sprach zwar nie mit ihm, aber mich beeindruckten seine wachen Augen und sein gütiges Lächeln. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich mich einmal in eine Psychoanalyse begeben, nach seiner Methode praktizieren und darüber sogar Bücher schreiben werde.
Im Alter von 27 Jahren geriet ich in eine Lebenskrise. Ich stellte meine gesellschaftlich angesehene akademische Karriere als Neurowissenschaftlerin in Frage und begab mich auf die Suche nach mir selbst. Wer war ich eigentlich? Nach materiellem Reichtum zu streben und Karriere zu machen schienen mir keine wünschenswerten Lebensziele zu sein. Im Gegenteil: Mit solchen Zielen leben zu müssen und einem ständigen Leistungsdruck von aussen machte mich unglücklich und krank. Was hatte ich vernachlässigt? War das schon alles? Was hatte ich bisher übersehen oder wie man heute sagt „nicht gecheckt“? Ich träumte von Erdbeben und einstürzenden Türmen. Meine «alte Welt» ging unter. Ich war bereit «alles hinzuschmeissen», wie man sagt.
Von der Psychoanalyse bzw. der Analytischen Psychologie nach C. G. Jung hatte ich während meines Psychologiestudiums an der Uni Zürich nur etwas Theorie gelernt. Mich faszinierte seine Methode der Traumdeutung. Im Sommer 1979 hatte ich während einer Tagung an der Uni Zürich einen Psychoanalytiker kennengelernt, der mir auf Anhieb sehr vertrauenswürdig vorkam. Er hiess Cardon Klingler, stammte aus den USA, führte in Zürich eine eigene Praxis und war Dozent am C.G. Jung-Institut. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, vereinbarte einen Termin und fragte ihn, ob ich eine Analyse bei ihm machen könne, auch wenn ich nur die Hälfte seines Honorars bezahlen könnte. Er schmunzelte und sagte zu. Von November 1979 bis Juni 1984 pendelte ich von St. Gallen nach Zürich – die ersten zwei Jahre sogar zweimal wöchentlich – zu Analysestunden. Herr Klingler hörte mir nicht nur zu, sondern lehrte mich meine Träume und damit die Botschaften meiner Seele zu verstehen. In meiner «alten Welt» hatte ich mich nach Bewertungen und Vorgaben von aussen gerichtet und mich selbst verloren. Um herauszufinden, wer ich war, musste ich mich nach innen wenden. Ich schottete mich von meiner Umwelt ab wie eine Schmetterlingsraupe, die sich verpuppt, um die Gestalt anzunehmen, die vom Plan der Schöpfung für mich vorgesehen war.
Es gibt ein Sprichwort, ich weiss nicht von wem, das lautet: «Nicht alle Stürme kommen, um dein Leben zu erschüttern. Manche kommen, um dir den Weg freizumachen.» Auf dem Weg zu mir selbst entdeckte ich zu meiner grossen Freude die innere Quelle meiner Schöpferkraft, die ich jetzt nicht mehr durch Lehrpläne, fremde Kontrollen und Bewertungen unterdrücken liess. Im Verlauf der Zeit wuchs mein Vertrauen, dass diese Quelle unaufhörlich sprudelt. Die Botschaften meiner Träume zeigen mir seither den Weg, geben mir Antworten auf viele Fragen und ermutigen mich meine kreativen Ideen umzusetzen. Als Psychotherapeutin habe ich auch meinen Patienten und Patientinnen beigebracht, ihre Träume zu verstehen und umzusetzen.
Dies ist aus meiner Sicht der grösste Verdienst von C. G. Jung: Er hat gezeigt, wie man geführt von den eigenen Träumen, die wichtige Botschaften der Seele sind, sich selbst finden und die eigene Schöpferkraft in entsprechende Handlungen und Entscheidungen einfliessen lassen kann. Der Therapeut oder die Therapeutin übersetzt dem Patienten oder der Patientin die symbolischen Traumbriefe und unterstützt so einen natürlichen inneren Heilungs- und Selbstwerdungsprozess.
Gerade unsere heutige Art zu leben ist bei vielen Menschen durch die «social media» geprägt und fördert die Entfremdung von sich selbst. Besonders Jugendliche lassen ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität von den verschiedenen «Plattformen» bestimmen. Die Folgen sind Selbstentfremdung bis zur Selbstzersplitterung – «Dissociation from self» genannt. Hier könnte die Jungsche Analytische Psychologie als Methode bewirken, dass die «User» die moderne Technologie lediglich als Werkzeug benutzen anstatt sich davon bestimmen zu lassen. Diese Art der Anwendung folgt jedoch nicht nach den Regeln des «Mainstreams», sondern nach den inneren Vorgaben der eigenen Seele mit dem Ziel der Selbstverwirklichung, die C.G. Jung den Individuationsweg nannte. Letzterer ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Wohl einer Gesellschaft, die in Frieden und Gemeinschaft leben möchte. Den Jugendlichen könnte man sagen: «Deine inneren Schätze findest du auf keinem Display! Lausche nach innen und abonniere den Kanal zu den Messages deiner Seele! Klick‘ auf die Glocke, damit du nichts verpasst! Dein Talent ist genau das, was die Welt braucht. Du bist einzigartig! Gib’ dir selbst die Likes! Dann freut sich deine Seele!»
Meine Publikationen zu diesem Thema finden sich in folgenden Büchern:
Lass mich atmen! Selbstwerdung und Sinnfindung durch Traum und Atem
Editions Heuwinkel, Allschwil und Carouge 1998
Eine Rose für Aschenputtel. Ein Weg der Selbstachtung
Verlag Warmisbach, Luzern 2003
Beide Bücher sind nur noch antiquarisch erhältlich. Den jeweiligen Hauptteil habe ich überarbeitet und in folgendem Sammelband veröffentlicht:
Riskante Fahrt in die Sahara
Hrsg. Literaturpodium, Dorante Edition Berlin 2020
Text und Foto: Petra Dobrovolny